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20.11.2020

Zeit der Erinnerung – Rituale als Hilfen beim Abschiednehmen

Vera Kolbe, Seelsorgerin in der Immanuel Klinik Rüdersdorf, hat für die Zeitschrift „DIE GEMEINDE“ über Seelsorge am Ende des Lebens geschrieben. Lesen Sie hier ihren Beitrag zum Ewigkeitssonntag am 22. November.
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Beim jährlichen Abschiedsgottesdienst in der Immanuel Klinik Rüdersdorf können Angehörige und Zugehörige ihrer Verstorbenen gedenken

Vera Kolbe, Seelsorgerin in der Immanuel Klinik Rüdersdorf

»Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt,
der ist nicht tot, der ist nur fern;
tot ist nur, wer vergessen wird.« (Immanuel Kant)

 

Am 23. August und am 4. November habe ich wie seit vielen Jahren eine Kerze entzündet. Im August 1928 wurde mein Vater geboren und im November 1975 starb er. Es sind zwei besondere Erinnerungstage. Was zu meiner privaten Biographie gehört, charakterisiert auch meine berufliche: Zeiten der Erinnerungen und der Abschiede.

Als Gemeindepastorin habe ich „Schwellenmomente“ von Gemeindemitgliedern begleitet. Trauerfeiern für Angehörige und Zugehörige gestaltet. Nun arbeite ich als Klinikseelsorgerin bei der Immanuel Albertinen Diakonie in der Immanuel Klinik Rüdersdorf. Zeiten der Erinnerungen prägen auch diesen beruflichen Kontext. Loslassen - Verabschieden - Erinnern - Gedenken.

Ein wesentliches Merkmal diakonischer Kultur ist für mich eine lebensnahe, wertschätzende und lebensförderliche Erinnerungskultur. Es ist ein Ausdruck der Würde und Mitmenschlichkeit zu hören: „Du bist und wirst nicht vergessen.“ Auf der Palliativstation der Klinik begleiten wir als interprofessionelles Team auch Menschen beim Sterben. Jeden ersten Montag im Monat erinnern wir uns an sie. Im „Raum der Stille“ verlese ich die Namen der Verstorbenen. Mitarbeitende entzünden eine Kerze. Manchmal teilen wir besondere Erinnerungen. Zwei Leitworte stehen über diesem Loslassen und Erinnern. „Gott spricht: Fürchte dich nicht, ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du gehörst zu mir,“ (nach dem Bibelvers Jesaja 43,1) und „Es sind die Lebenden, die den Toten die Augen schließen und es sind die Toten, die den Lebenden die Augen öffnen,“ (slawisches Sprichwort). Als Palliativteam wenden wir uns - gestärkt durch ein Segenswort – dann den Lebenden zu, die aktuell im Palliativbereich behandelt werden.

Zur Abschiedskultur in der Immanuel Klinik Rüdersdorf gehört ebenfalls der jährliche Gedenkgottesdienst am Sonnabend vor dem Ewigkeitssonntag. Ursprünglich einmal für die Angehörigen und Zugehörigen der in der Klinik Verstorbenen gedacht, wird er nun in Kooperation mit Senioreneinrichtungen der Immanuel Albertinen Diakonie der Region begangen. Er ist zudem ein Angebot, in dem Mitarbeitende ihrer Lieben gedenken können, auch wenn der Abschied schon Jahre zurückliegt. Die Teilnehmenden des Gottesdienstes werden gefragt, ob die Namen der Verstorbenen laut genannt werden dürfen. Manche nehmen das Angebot gerne an, andere wollen in der Stille gedenken. Alle können jedoch für „ihre“ Verstorbenen Kerzen entzünden. Dies ist immer wieder ein besonders berührender Moment. Ein Kerzenmeer erstrahlt, umrahmt durch das Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Menschen gehen mit Gottes Segen weiter in ihrer Trauerzeit und wenden sich vorsichtig dem Leben zu. Gerne heiße ich sie auch im Trauercafé willkommen, das ich einmal im Monat anbiete und in dem durch den Austausch weitere Schritte des Abschiedsnehmens gegangen werden können. Loslassen und Abschied benötigt Zeit. Es ist wichtig, sich und anderen diese Zeit zu geben.

Über einige Jahre habe ich eine Patientin begleitet, die eine Krebserkrankung hatte und zu Beginn unseres Kennenlernens vor der lebensverändernden Entscheidung stand, einer Dialysebehandlung zuzustimmen oder sie abzulehnen. Nach vielen Gesprächen entschied sie sich für den für sie psychisch wie physisch herausfordernden Weg der Dialyse. Für sie, wie für ihren Sohn und Lebenspartner auch, ein erster Schritt des Loslassens. Nach einigen Jahren reichte ihre Kraft für die Dialyse nicht mehr. In den Tagen zwischen den Dialysen bedeutete nämlich Leben, Kraft zu sammeln für die nächste Dialyse. Sie war bereit, Abschied zu nehmen. Sie war in diesem Moment ihren Zugehörigen einen Schritt voraus. Diese brauchten noch Zeit, um sie loszulassen. In dieser Zeit verfasste die Patientin ein berührendes Erinnerungsbuch für ihre Enkelin und erzählte, erzählte, erzählte, wenn es ihre Kraft zuließ, aus ihrem Leben. Liebevoll gestalteten die Zugehörigen ihr Zimmer im Hospiz. Ich erinnere mich an sie als warmherzige, liebevolle, zarte und gleichzeitig bestimmende Frau. Sie bezeichnete sich als Materialistin und sagte mir einmal, wie überrascht sie doch von sich sei, dass sie mit einer Seelsorgerin „könne“. Unser letztes Gespräch am Abend vor ihrem Tod kreiste wieder um die Fragen des „Danachs“: Was wird kommen? Wird etwas kommen? Was wird bleiben? Wie bleibe ich? Wie kann Verbindung gehalten werden?“

Für mich wird diese Verbindung durch Gott, den Herrn über Leben, Raum und Zeit, gehalten. In ihm sind die Lebenden und die Toten verbunden. Denn dieser Gott bietet sich als Begleiter im Leben, im Sterben bis in die Ewigkeit hinein an. Für sie gab es ein „Weiterleben“ in der Erinnerung, ja in der Liebe. Bei der Liebe, könnte man sagen, haben wir uns „getroffen“. Gott ist die Liebe und er wird sich ihrer erinnern.
Abschiede gestalten sich verschieden je nach dem, was der Einzelne für sich als sinnstiftend im Leben entdeckt hat. Ich erinnere mich an eine Frau, die im Kreis ihrer Familie um den Sterbesegen bat. Wir haben miteinander die alten und tragenden Worte gebetet und gesungen: Psalm 23 und die Kirchenlieder „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ und „Befiehl du deine Wege“. In der Gegenwart Gottes konnten Erinnerungen dankbar miteinander geteilt werden. Auch das, was offengeblieben ist, wurde ausgesprochen. Vergebung wurde erfahren, wo sie einander etwas schuldig geblieben waren. Es wurde gelacht und geweint. Eine Woche später starb sie zu Hause. Sie hat den Sterbesegen und die Salbung wie eine Wegzehrung für ihre letzte Wegstrecke empfunden:

„Es segne dich Gott, der Vater, der dich nach seinem Bild geschaffen hat.  Es segne dich Gott der Sohn, der dich durch sein Leiden und Sterben erlöst hat.  Es segne dich Gott der Heilige Geist, der dich zum Leben gerufen und geheiligt hat. Gott der Vater und der Sohn und der Heilige Geist geleite dich durch das Dunkel des Todes. Er sei dir gnädig im Gericht und gebe dir Frieden und ewiges Leben.“

Autorin Vera Kolbe, Pastorin, Klinikseelsorgerin Immanuel Klinik Rüdersdorf

Anmerkung: Der Text ist zuerst erschienen in DIE GEMEINDE 22/20, S. 6-7, Oncken Verlag Kassel.


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